Vivian ist eine 6-jährige Barockpintostute (Bayrische Warmblutstute x Tinkerhengst), die ich seit Dezember zwei Mal wöchentlich trainiere. Ihrer Mitreiterin Barbara gebe ich ein Mal die Woche Unterricht.
Als ich sie kennenlernte, war sie erst etwa ein halbes Jahr intensiver unter dem Sattel.
Vivian bringt körperlich nicht die besten Voraussetzungen mit: Sie hat zwar eine in den oberen Gelenken gut gewinkelte, kräftige Hinterhand und ist insgesamt kräftig gebaut; sie hat aber einen langen Rücken, eine zum Widerrist hin abfallende Rückenlinie, kurze Vorderbeine mit steilen Hufen, lange, eher steile Schultern, ein recht gerades Hinterbein mit nicht so starkem Sprunggelenk. Ihre Bewegungen sind kurz, ihr Gang erinnert eher an ein Pony. Die Schwierigkeiten im Körperbau macht sie aber durch ihren freundlichen, lern- und arbeitswilligen Charakter mehr als wett.
Vivian war zu Beginn sehr empfindlich, normales Putzen war unmöglich, weil sie bei festeren Berührungen sofort wegzuckte. Ihre Muskulatur war dauerhaft angespannt und verhärtet.
Zuerst war also wichtig, Vivians Verspannungen in den Griff zu bekommen. Dazu begann ich mit einfachen Dehnungs- und Entspannungsübungen am Kappzaum. Wochenlang konzentrierten wir uns auf die Arbeit an der Longe - Vivian musste lernen, sich nicht nur mit festem Rücken auf die Vorhand zu schmeißen und davonzurennen. Allmählich begann sie, sich mehr zu dehnen. Zuerst arbeiteten wir an Stellung und Biegung, wobei sie immer auf die innere Schulter kippte - da hieß es, immer wieder unter dem Tempo auf Volten und mit viel Übertreten zu arbeiten, wobei die innere Schulter (bzw. aufgrund ihrer ausgeprägten Schiefe speziell die rechte) angehoben und der feste Lendenbereich mobiler wurde.
Bald nahmen wir auch die Arbeit an der Hand dazu. Zuerst entfernte ich Nasen- und Sperrriemen und tauschte das Gebiss gegen eine einfach gebrochene Schenkeltrense aus. Erste Abkauübungen quittierte Vivian mit minutenlangem Strecken und Gähnen - ein Zeichen dafür, dass Vivian endlich Verspannungen loslassen konnte.
Reiten war mit Vivian zu Beginn am schwierigsten. Sie machte sich fest, lag auf der Vorhand, eilte davon, an Galopp war gar nicht erst zu denken. Reiten war die meiste Zeit Stress für sie. Zügelhilfen konnte sie gar nicht annehmen, sie rollte sich entweder ein oder riss dem Reiter die Zügel aus der Hand. Hier war es also angebracht, dass ich ihr das Gebiss erst vom Boden aus neu "erklärte", reiterlich schafften einige Wochen gebisslos (Kappzaum) Abhilfe - so konnten wir uns auf lockeres Reiten und grundlegende Übungen konzentrieren, ohne dass Vivian ständig gegen das Gebiss protestieren musste.
Aufgrund ihrer durch das Training zwar besser werdenden, aber trotzdem immer wiederkehrenden Verspannungen gab es einen Besuch vom Chiropraktiker und der Sattel wurde neu angepasst.
Nun, nach einem halben Jahr, ist Vivian ein ausgeglicheneres, entspannteres Pferd, das sich in seinem Körper wohler fühlen kann. Sie ist ausbalancierter, steht meist an den Hilfen, trägt sich selbst immer besser. Tatsächlich muss man bei einem jungen Pferd (das bereits einige zu korrigierende Muster mitbringt) mit mehreren Monaten des Lernens rechnen, bevor man erwarten kann, dass es immer korrekt auf Hilfen reagiert, "am Sitz" ist. Mittlerweile sind an der Longe und unter dem Reiter alle drei Grundgangarten enstpannt auf dem Platz möglich, Übergänge in Dehnungshaltung, erste Seitengänge in Schritt und Trab. An der Hand arbeiten wir bereits an Schritttraversalen und Renverspirouetten. Nach dem Mobilisieren kommt nun allmählich die stabilisierende Arbeit, die zu immer mehr Versammlung führt, dazu.
Am 9. Mai 2020 begleitete uns die großartige Fotografin Jennifer Jerger bei einer Einheit.
Zu Beginn eine kurze Longiereinheit - losgelassener Schritt in Dehnungshaltung ist das erste Ziel.
Übertreten auf verschiedenen Linien in unterschiedlicher Abstellung und Aufrichtung gehört zum Aufwärm- und Mobilisierungsprogramm dazu.
Erst nach dem Übertreten kann sich Vivian auch im (zu Beginn sehr untertourigen) Trab fallen lassen, ohne zu stark auf die Vorhand zu kommen, und erst jetzt kann sie das Hinterbein mitnehmen. Zu diesem Zeitpunkt würde ein Vorwärtsschicken im Trab nur dazu führen, dass sie auf der Vorhand davoneilen würde.
Deutliches Anheben der Longe erinnert Vivian daran, sich im Galopp mehr zu heben.
Vor der Arbeit an der Hand führe ich Abkau-, Biege- und Dehnübungen durch. Diese lockern Vivians Genick und dehnen die Halsmuskulatur.
Vivians starke Reaktion auf diese Übungen im Stand - Gähnen, Strecken, Schlecken!
Das Ergebnis: totale Entspannung :)
In der Arbeit an der Hand beginne ich mit Volten in Biegung und Konterbiegung, danach folgen Seitengänge - zuerst Übertreten (voriges Bild), dann Schulterherein, Travers, Renvers, erste Ansätze zu Renverspirouetten und Schritttraversalen (gezeigt in den nachfolgenden Bildern - die Übungen sind selbstverständlich noch nicht perfekt, hier üben wir erst das 2. oder 3. Mal!).
Übergang Renverspirouette zu Schritttraversale- bzw. in naher Zukunft ;)
Der Handarbeit folgt noch eine kurze Reiteinheit. Vivian hat sich vor dieser Sequenz steif gemacht, ist auf die Vorhand gefallen und über dem Zügel gegangen. Ich muss beständig die korrekte Dehnungshaltung erarbeiten. Ja, Beritt sieht manchmal komisch aus - in der Action-Reaction nach der Ecole de Légèreté werden die Hände zuerst deutlich angehoben, um das Genick zu öffnen und das Kiefer zu mobilisieren. Sobald das Pferd kaut und nach vorne "anzieht", erlaube ich die Dehnung nach vorne-unten.
... und siehe da, trotz des spärlichen bis abwesenden Gebrauchs des Schenkels fußt Vivian mit dem Hinterbein nun deutlich weiter vor - weil die Aufrichtung des Brustbereichs dies nun erst zulassen kann!
Wir nähern uns einer Dehnungshaltung an - hier kann man jedoch bereits die Tendenz erkennen, dass sich Vivian gern wieder auf die Vorhand stützen und einrollen möchte. Dagegen hilft Übertreten bzw. unsere ersten Versuche in Seitengängen. Demi-ârrets, d.h. das Anheben und Öffnen des Genicks durch die Hand, quittiert Vivian zu diesem Zeitpunkt noch mit Stress.
Auch im Trab nutze ich Übertreten bzw. erste Ansätze zum Schulterherein, um Vivian geschmeidig zu machen, ihren Brustkorb anzuheben, die Beugung der Hinterhand zu aktivieren ...
... sowie zu einem gleichmäßigen Takt zu finden.
Vivian schafft es immer besser, die Nase nach vor zu nehmen und den Hals zu strecken anstatt einzurollen. Bis zur perfekten Dehnungshaltung brauchen wir jedoch noch einige Zeit.
Im Galopp konzentrieren wir uns in erster Linie auf Ruhe und Dehnung. Die Balance im Galopp fällt Vivian noch sehr schwer, sie wird dadurch eilig und vorhandlastig.
Schwung entwickelt sich bei Vivian nicht durch Treiben, sondern durch Loslassen! (Die Nase ist natürlich noch zu weit hinten.)
Am Ende der Einheit reicht bereits ein leichtes Schultervor, um Vivian an das Anheben der rechten Schulter bzw. des Brustkorbes zu erinnern.
Zum Abschluss noch eine kleine Runde im Gelände - wenn Vivian zu "heiß" wird, bringe ich sie ins Übertreten, wodurch sie schnell wieder entspannt und locker wird.
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